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Rasentennis mit Frustpotential Ein Fußballspiel, das noch lange in Erinnerung bleiben wird - das war die Partie zwischen Hertha BSC und dem Hamburger SV. Allerdings lag das nicht unbedingt an den sportlichen Leistungen beider Mannschaften, insbesondere nicht an der Leistung von Hertha BSC. Für die Berliner könnte das Spiel jedoch gefährliche Konsequenzen haben. "Leben, um davon zu erzählen", so lautet der Titel eines Buches des Nobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez. Man kann aber genauso gut sagen "Fußball, um davon zu erzählen". Denn seien wir ehrlich, wer erinnert sich schon an viele einzelne Ergebnisse? Im Fußball, wie im Leben, geht es vor allem um besondere Ereignisse und große Emotionen, mehr als um simple Arithmetik. Und genau deshalb wird man noch lange über den 2:1-Erfolg des Hamburger SV bei Hertha BSC sprechen. Es ist bezeichnend für die Situation der Berliner, dass das Spiel wohl kaum wegen der schönen Tore oder aus sportlicher Sicht in Erinnerung bleiben wird. Sondern einzig und allein wegen der knapp 30-minütigen Unterbrechung in der zweiten Halbzeit. Diese wurde verursacht durch Tennisbälle, die aus der Ostkurve des Olympiastadions aus Wut über die DFL auf den Rasen geworfen wurden. Bereits in der ersten Halbzeit hatte die Gästekurve für eine kurze Spielunterbrechung gesorgt. Allerdings gingen dem Hamburger Anhang die gelben Filzbälle schnell aus. Immerhin konnte man in der 25. Minute aus Sicht von Hertha BSC feststellen: Endlich mal etwas los im HSV-Strafraum. Vielleicht war es sogar die erstaunlichste sportliche Leistung des Abends. Immerhin hat das Olympiastadion eine Rundum-Laufbahn, die gut und gerne als Start- und Landebahn für mittelgroße Flugzeuge dienen könnte. Es war also ein stolzer Moment für die Speerwurf-Nation Deutschland. Offensichtlich haben viele deutsche Fußballfans eine gute Wurfarmtechnik. Ansonsten wurde der Strafraum des HSV allerdings zur verbotenen Zone erklärt. Hertha näherte sich dem gegnerischen Tor höchstens zögerlich. Torschussversuche blieben Mangelware. Obwohl die Berliner defensiv gut agierten, entwickelte sich ein Spiel, das in der ersten Halbzeit so unterhaltsam war wie das Beobachten einer Bushaltestelle nach Betriebsschluss in Sargleben. Im Vergleich zum enttäuschenden Pokal-Aus gegen den 1. FC Kaiserslautern schickte Trainer Pal Dardai seine Mannschaft mit einer Viererkette auf das Feld. Dabei tüftelte er eine interessante taktische Variante aus: Im Defensivspiel rückte Stürmer Florian Niederlechner auf die Sechser-Position vor, während der eigentliche Sechser Andreas Bouchalakis auf die Zehner-Position wechselte. In Kombination mit einer kompakten Staffelung der Mannschaftsteile, die erst ab der Mittellinie Pressing vorsah, konnte Hertha das Zentrum und damit die spielstarken HSV-Akteure Laszlo Benes und Immanuel Pherai in Schach halten. Allerdings blieb das Offensivspiel der Berliner insgesamt nur eine Absichtserklärung. Es gab viele Einzelaktionen, die frühzeitig unterbrochen wurden. So bleibt der Eindruck, dass Hertha zwar weiß, wie man Tore verhindert, aber nur eine vage Vorstellung davon hat, wie man welche erzielt. Die Spieler geben sich Mühe und kämpfen in den Zweikämpfen, wirken motiviert, etwas mit dem Ball zu erreichen. Kurz gesagt: Sie spielen Fußball, wie Karsten Braasch in seinem Tennismatch spielte - schrullig-sympathisch, aber mit begrenzten Mitteln. Großes Tennis sieht allerdings anders aus. Trotzdem haben die Berliner einen Spieler in ihren Reihen, der das Spiel wirklich beherrscht. Einer, der sich schon in die Herzen der Hertha-Fans gespielt hat. Und auch gegen den HSV weiter an seiner Legendenbildung arbeitete. Fabian Reese, der nach seiner überstandenen Corona-Erkrankung immer noch nur Teilzeit spielt, brachte nach seiner Einwechslung in der 60. Minute sofort Gefahr und bereitete den zwischenzeitlichen Ausgleich durch Haris Tabakovic vor. Es wäre an der Zeit, dass sich die Berliner Universitäten mit Projekten zur "Reese-Wirkung" befassen. Es ist einfach unglaublich, welche Energie dieser eine Fußballspieler sowohl seiner Mannschaft als auch einer Zweitliga-Begegnung verleihen kann. Dass der HSV, immerhin Tabellenzweiter und mit einem überdurchschnittlich starken Zweitliga-Kader ausgestattet, an diesem Abend zwei Tore erzielen konnte, kann passieren. Dass Hertha nur ein Tor gelang, ist jedoch das eigentliche Problem. Mannschaft und Verein sollten dringend nach anderen Gefahrenquellen suchen, auch ohne Fabian Reese. Denn sonst droht der Hertha etwas Schlimmeres als der verpasste Wiederaufstieg: Desinteresse. Denn derzeit bietet Hertha viel zu wenig, um davon zu erzählen. Quelle: rbb24.de
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